LVwG-780003/21/WG/JB
Linz, 19.09.2014
I M N A M E N D E R R E P U B L I K
Das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich hat durch seinen Richter Mag. Wolfgang Weigl über die Beschwerde des M. F. A., vertreten durch Rechtsanwalt Mag. W. E., x, x, wegen Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt durch die Bezirkshauptmannschaft Vöcklabruck,
zu Recht e r k a n n t :
I. Der Beschwerde wird gemäß § 28 Abs. 6 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG) stattgegeben. Es wird festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers am
1. und 2. Oktober 2012 rechtswidrig war.
II. Der Bund hat dem Beschwerdeführer gemäß § 1 Z 1 der VwG-Aufwandersatzverordnung Kosten in der Höhe von insgesamt 737,60 Euro binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
III. Gegen dieses Erkenntnis ist gemäß § 25a VwGG eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
1. Die Bezirkshauptmannschaft Vöcklabruck (im Folgenden: belangte Behörde) versuchte am 1. Oktober 2012 den Beschwerdeführer (im Folgenden: Bf) - einen afghanischen Staatsangehörigen – aus dem Stande der Schubhaft im Luftweg nach Afghanistan abzuschieben. Da die afghanischen Grenzbeamten die Übernahme des Bf verweigerten, scheiterte das Vorhaben und die Exekutivorgane kehrten am 2. Oktober 2012 mit dem Bf nach Österreich zurück.
2. Mit Eingabe vom 13. November 2012 erhob der Bf beim Unabhängigen Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich (im Folgenden: UVS) Maßnahmebeschwerde gemäß § 67a Abs 1 Z 2 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz (AVG). Er stellte darin den Antrag, festzustellen, dass seine Abschiebung am 1. Oktober 2012 und am 2. Oktober 2012 rechtswidrig war, und auf Zuspruch von Kostenersatz. Zwingende Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der Abschiebung sei gemäß § 46 Abs 2 FPG – so der Bf - der Besitz eines Reisedokuments oder die Ausstellung eines Ersatzreisedokuments durch die zuständige ausländische Behörde. Beides sei in seinem Fall nicht vorgelegen, weshalb sich seine Verbringung zum Flughafen Wien Schwechat und die Anordnung, die Reise von Wien nach Istanbul und Kabul anzutreten, als rechtswidrig erweise.
3. Die belangte Behörde legte den Verfahrensakt vor und beantragte in ihrer Gegenschrift vom 15. Jänner 2013 die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde und führte aus, der Bf verfüge über eine Personenstandsurkunde (Tazkira). In einem vergleichbaren Fall sei am 31. August 2012 ein afghanischer Staatsangehöriger mit einem gleichwertigen Tazkira erfolgreich abgeschoben worden.
4. Der UVS hatte zwischenzeitig die Schubhaftbeschwerde des Bf abgewiesen. Im Einvernehmen mit der belangten Behörde und dem Bf wurde das Verfahren über die Maßnahmebeschwerde bis zur – mittlerweile vorliegenden - Entscheidung des VwGH über die Schubhaftbeschwerde ausgesetzt (VwGH vom 25. April 2014, Zl 2013/21/0077).
5. Das an die Stelle des UVS getretene Landesverwaltungsgericht Oö. (im Folgenden: LVwG) setzte das Verfahren über die Maßnahmebeschwerde gemäß § 125 Abs 24 Fremdenpolizeigesetz (FPG) fort.
6. Der Bf stellte keinen Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Die belangte Behörde verzichtete nach Wahrung des Parteiengehörs durch das LVwG auf eine Verhandlung.
7. Das LVWG hat Beweis erhoben durch Einsichtnahme in den vorgelegten Verfahrensakt der belangten Behörde. Zudem wurden Stellungnahmen der belangten Behörde sowie des Bundesministerium für Inneres eingeholt.
8. Auf Grund der in den Akten befindlichen Beweismittel steht – ergänzend zum dargestellten Verfahrensablauf – folgender Sachverhalt fest:
9. Im Zeitraum April 2012 bis 1. Oktober 2012 galt der Erlass des BMI vom 5. Juli 2006 Zl: BMI-FW1410/0159-II/3/2006. In diesem – die islamische Republik Afghanistan betreffenden - Erlass wird der Tazkira nicht erwähnt, sondern ausgeführt: „Anträge um Ausstellung von Heimreisezertifikaten sind generell nur im Wege der Abt. II/3 zu beantragen. Die Erlässe BMI-FW1000/0068-II/3/2006 und BMI-FW1000/0069-II/3/2006 (Vorgangsweise bei der Antragstellung bzw. Identitätsprüfung) gelten sinngemäß.“
10. Mit – an eine Organisation der Rechtsberatung gerichteten – Schreiben vom 3. April 2012 hielt das BMI fest: „Bei Fremden, die über kein Reisedokument verfügen wird geprüft, ob die Voraussetzungen des § 97 FPG für die Ausstellung eines Reisedokumentes (sog. Laissez Passer) durch die Fremdenpolizeibehörde für Drittstaatsangehörige vorliegen. Ist dies nicht möglich, hat sie bei der zuständigen Vertretungsbehörde ein für die einmalige Ausreise gültiges Reisedokument (sog. Heimreisezertifikat) zu besorgen. Durch die in Wien eingerichtete Vertretungsbehörde der Islamischen Republik von Afghanistan werden allerdings nur für freiwillige Ausreisen, nicht jedoch für zwangsweise Rückführungen Heimreisezertifikate ausgestellt, sodass derzeit Abschiebungen nach Afghanistan, obwohl nach einzelfallbezogenen Prüfungen gem § 13 Abs 2 FPG solche zulässig wären, nicht möglich sind.“ Dieses Schreiben erging nicht auch an die nachgeordneten Behörden. Im Juli 2012 bestätigte das BMI sinngemäß diesen Standpunkt in einem „Standard“-Interview.
11. Die BPD Salzburg lud den Bf infolge einer rechtskräftigen asylrechtlichen Ausweisung mit Schreiben vom 21. Juni 2012 zur Beantragung eines Heimreisezertifikates vor. Nach Durchführung der Einvernahme am 21. Juni 2012 wandte sich die BPD Salzburg mit Schreiben vom 25. Juni 2012 an das BMI. Unter gleichzeitiger Übersendung des Personalblattes, eines Fingerabdruckblattes, des Fragenprogrammes gemäß BMI, diverser Ablichtungen von afghanischen Dokumenten, sowie 3 Lichtbildern wurde um die Erwirkung eines Heimreisezertifikates ersucht. Das Bundesministerium für Inneres teilte der BPD Salzburg daraufhin mit Schreiben vom 25. Juli 2012 mit, dass nach Rücksprache mit der Botschaft der Islamischen Republik Afghanistan im Rahmen der Identitätsprüfung des Bf ein Interview am 21. August 2012 benötigt werde. Daraufhin lud die BPD Salzburg den Bf für den 14. August 2012 vor, um ihm den Termin für das Interview bekannt zu geben. Der Bf stellte jedoch am 6. August 2012 in der EAST West einen Asylfolgeantrag. Am 7. August 2012 leitete das Bundesasylamt ein Ausweisungsverfahren über den Bf wegen entschiedener Sache ein, woraufhin die belangte Behörde den Schubhaftbescheid vom
7. August 2012 erließ (vgl Feststellungen des UVS Erkenntnisses vom 8.10.2012, Seite 5). Das Schreiben der BPD Salzburg vom 25. Juni 2012 nimmt Bezug auf die Aktenzahl des oben erwähnten Erlasses des BMI (BMI-FW1410/0159-II/3/2006).
12. Der Beschwerdeführer wurde von der belangten Behörde aber nicht zum Interviewtermin vor der Botschaft am 21. August 2012 vorgeführt. Auf folgendes Vorbringen des Vertreters der belangten Behörde (Seite 3 des UVS Erkenntnisses vom 8.10.2012) wird verwiesen: „Der Beschwerdeführer wurde von der belangten Behörde nicht zum Interviewtermin vor der Botschaft am
21. August 2012 vorgeführt, zumal er sich damals im Folgeasylverfahren befand. Eine Vorführung vor die Vertretungsbehörde ist erst nach Vorliegen einer erstinstanzlichen negativen asylrechtlichen Entscheidung zulässig. Aufgrund der Erfahrungswerte der Behörde, wonach eine Abschiebung mit einem Personenstanddokument wie dem Tazkira bei afghanischen Staatsangehörigen ohne weiteres möglich ist, war eine solche Vorführung auch nicht unbedingt erforderlich, um die Abschiebung am 1. Oktober 2012 in die Wege zu leiten. Nunmehr hat sich ergeben, dass seit 1. Oktober 2012 eine Bestätigung der afghanischen Botschaft über die Staatsbürgerschaft des Abzuschiebenden vorliegen muss. Eine solche werden wir auch beischaffen. Festzuhalten ist, dass sich der Beschwerdeführer mittlerweile erneut in einem Asylverfahren befindet und eine Vorführung vor die Vertretungsbehörde erst – wie schon erwähnt – nach Abschluss des erstinstanzlichen Verfahrens mit einem negativen Asylbescheid zulässig wäre. Eine Abschiebung wird jedenfalls noch im Jahr 2012 möglich sein."
13. Nachgewiesen ist, dass zuvor – am 31. August 2012 – eine Abschiebung eines afghanischen Staatsangehörigen mittels Tazkira erfolgreich durchgeführt werden konnte (Stellungnahme der BH VB vom 10. Juli 2014).
14. Der Beschwerdeführer verfügte seinerseits über einen auf 3. Juni 1987 datierten Tazkira. Da die afghanischen Grenzbehörden keine Tazkiras mit älterem Datum mehr akzeptierten, scheiterte die Abschiebung am 1. Oktober 2012. Dieser Umstand – keine Tazkiras mit älterem Datum - wurde erst zu einem späteren Zeitpunkt anlässlich eines Treffens mit Vertretern der afghan. Botschaft bestätigt und am 28. November 2012 als aktuelle Information iZm mit der Beschaffung von Heimreisezertifikaten bei Vertretungsbehörden im elektron. ARGUS-Informationssystem des BM.I den Fremdenpolizeibehörden zur Verfügung gestellt. (Email des BMI vom 5. September 2014 ).
15. Ähnliches ergibt sich aus dem – von der Akteneinsicht ausgenommenen Aktenvermerk vom 5. Oktober 2012 samt Beilagen (Niederschrift des UVS vom 8.10.2012) – derzufolge bis 1.10.2012 auch andere Mitgliedstaaten der EU mittels Tazkira einzelne Abschiebungen erfolgreich durchführen konnten.
16. Beweiswürdigung:
17. Einleitend wird der Verfahrensgang wieder gegeben. Das BMI stellte den Erlass vom 5. Juli 2006 mit dem Hinweis zur Verfügung, dass er nicht von der Akteneinsicht auszunehmen ist. Das Schreiben des BMI vom 3. April 2012 wurde vom Bf vorgelegt, der auch auf das Interview mit dem „Standard“ hinwies. Die Vorladung des Bf durch die BPD Salzburg ergibt sich aus dem Verfahrensakt und den Feststellungen des erwähnten UVS-Erkenntnisses. Der Bf bestritt zwar die von der belangten Behörde eingewendete Abschiebung vom 31. August 2012. Diese ist aber infolge des vorliegenden Schubberichtes als erwiesen anzusehen. Fest steht weiters, dass auch andere EU-Mitgliedstaaten erfolgreich einzelne Abschiebungen mittels Tazkira durchgeführt hatten. Dies ergibt sich aus einem – von der Akteneinsicht ausgenommenen – Bericht der EUPOL. Die Abschiebung des Bf scheiterte lt Email des BMI vom 5. September 2014, weil sein Tazkira ein älteres Datum aufwies. Der maßgebliche Sachverhalt (Randnummer 9 bis 15) steht damit bereits nach der Aktenlage fest.
18. Rechtliche Beurteilung:
19. Die Zuständigkeit des LVWG zur Entscheidung über die Maßnahmebeschwerde ergibt sich aus § 125 Abs 22 Fremdenpolizeigesetz (FPG).
20. Eine Verhandlung konnte gemäß § 24 Abs 2 Z 1 VwGVG entfallen, weil bereits nach den vorliegenden Aktenbestandteilen die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt für rechtswidrig zu erklären ist.
21. Art 130 Abs 3 B-VG lautet:
(3) Außer in Verwaltungsstrafsachen und in den zur Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtes des Bundes für Finanzen gehörenden Rechtssachen liegt Rechtswidrigkeit nicht vor, soweit das Gesetz der Verwaltungsbehörde Ermessen einräumt und sie dieses im Sinne des Gesetzes geübt hat.
22. Die in der Sache maßgeblichen Rechtsvorschriften ergeben sich aus folgenden – am 1. Oktober 2012 geltenden – Bestimmungen des FPG:
§ 46 FPG lautete unter der Überschrift „Abschiebung“:
(1) Fremde, gegen die eine Rückkehrentscheidung, eine Ausweisung
(§§ 61, 66 § 10 AsylG 2005) oder ein Aufenthaltsverbot durchsetzbar ist, sind von den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Auftrag der Behörde zur Ausreise zu verhalten (Abschiebung), wenn
1. die Überwachung ihrer Ausreise aus Gründen der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit notwendig scheint,
2. sie ihrer Verpflichtung zur Ausreise nicht zeitgerecht nachgekommen sind,
3. auf Grund bestimmter Tatsachen zu befürchten ist, sie würden ihrer Ausreiseverpflichtung nicht nachkommen, oder
4. sie einem Einreiseverbot oder Aufenthaltsverbot zuwider in das Bundesgebiet zurückgekehrt sind.
(2) Verfügt der Fremde über kein Reisedokument und kann die Abschiebung nicht ohne ein solches durchgeführt werden, hat die Behörde bei der für ihn zuständigen ausländischen Behörde ein Ersatzreisedokument für die Abschiebung einzuholen oder ein Reisedokument für die Rückführung von Drittstaatsangehörigen auszustellen. § 97 Abs. 1 gilt.
(2a) Die Behörde ist berechtigt, Personen, die in ihrem Amtsbereich ihren Aufenthalt haben und für die die Behörde ein Ersatzreisedokument bei der zuständigen ausländischen Behörde für die Abschiebung einzuholen hat, vorzuladen. Die Amtshandlung kann auch außerhalb des Amtsbereiches der zuständigen Behörde stattfinden. § 19 Abs. 2 bis 4 AVG gilt.
(3) Die Behörde hat alle zur Durchführung der Abschiebung erforderlichen Veranlassungen unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles (insbesondere Abs. 2 und 4) ehestmöglich zu treffen, insbesondere hat sie sich vor der Abschiebung eines unbegleiteten minderjährigen Fremden zu vergewissern, dass dieser einem Mitglied seiner Familie, einem offiziellen Vormund oder einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung im Zielstaat übergeben werden kann. Amtshandlungen betreffend Fremde, deren faktischer Abschiebeschutz gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 aufgehoben wurde, sind prioritär zu führen.
(4) Liegen bei Angehörigen (§ 72 StGB) die Voraussetzungen für die Abschiebung gleichzeitig vor, so hat die Behörde bei der Erteilung des Auftrages zur Abschiebung Maßnahmen anzuordnen, die im Rahmen der Durchführung sicherstellen, dass die Auswirkung auf das Familienleben dieser Fremden so gering wie möglich bleibt.
(5) Die Abschiebung ist im Reisedokument des Fremden ersichtlich zu machen, sofern dadurch die Abschiebung nicht unzulässig oder unmöglich gemacht wird. Diese Eintragung ist auf Antrag des Betroffenen zu streichen, sofern deren Rechtswidrigkeit durch den unabhängigen Verwaltungssenat festgestellt worden ist.
(6) Abschiebungen sind systematisch zu überwachen. Nähere Bestimmungen über die Durchführung der Überwachung hat der Bundesminister für Inneres durch Verordnung festzulegen.
§ 97 FPG lautete unter der Überschrift „Reisedokument für die Rückführung von Drittstaatsangehörigen“.
(1) Drittstaatsangehörigen, die über kein Reisedokument verfügen und deren Rückkehrentscheidung, Ausweisung oder Aufenthaltsverbot durchsetzbar ist, kann ein für eine einmalige Ausreise gültiges Reisedokument ausgestellt werden, wenn davon ausgegangen werden kann, dass der Staat, in den der Fremde freiwillig zurückkehrt oder abgeschoben werden soll, dessen Einreise mit diesem Dokument gestattet.
(2) Das Reisedokument hat jedenfalls den Namen, das Geburtsdatum, die Größe und die Staatsangehörigkeit des Drittstaatsangehörigen sowie das Zielland der Reise zu enthalten. Die nähere Gestaltung des Reisedokumentes legt der Bundesminister für Inneres mit Verordnung fest.
23. § 46 Abs 2 FPG verschafft – wie sich bei systematischer Gesamtbetrachtung des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes sowie des § 46a FPG ergibt – weder ein Aufenthaltsrecht noch einen Duldungsstatus und ändert nichts an der Verpflichtung der Behörde, den Aufenthalt eines rechtskräftig ausgewiesenen Fremden nach Maßgabe des § 46 Abs 1 FPG zu beenden.
24. Mit dem Vorbringen, Voraussetzung für eine rechtmäßige Abschiebung sei (stets) der Besitz eines Reisedokuments oder ein von der ausländischen Behörde ausgestelltes Ersatzreisedokument, entfernt sich der Bf vom Wortlaut des
§ 46 Abs 2 FPG. Ein – von der Fremdenpolizeibehörde oder der ausländischen Vertretungsbehörde ausgestelltes - Ersatzreisedokument ist expressis verbis nur dann erforderlich, wenn die Abschiebung ohne Reisedokument nicht durchgeführt werden kann.
25. Unter welchen Voraussetzungen eine Abschiebung ohne Reisedokument nicht durchgeführt werden kann, stellt zunächst eine Beweisfrage dar. § 45 AVG gilt – wenn auch auf verfahrensfreie Verwaltungsakte nicht unmittelbar anwendbar – sinngemäß. Nach der Rsp des VwGH ist für die Annahme einer Tatsache als erwiesen (vgl § 45 Abs 2 AVG) keine „absolute Sicherheit“ (kein Nachweis „im naturwissenschaftlich-mathematisch exakten Sinn“ [vgl VwSlg 6557 F/1990]) erforderlich (VwGH 20. 9. 1990, 86/07/0091; 26. 4. 1995, 94/07/0033; 20. 12. 1996, 93/02/0177), sondern es genügt, wenn eine Möglichkeit gegenüber allen anderen Möglichkeiten eine überragende Wahrscheinlichkeit oder gar die Gewissheit für sich hat und alle anderen Möglichkeiten absolut oder mit Wahrscheinlichkeit ausschließt oder zumindest weniger wahrscheinlich erscheinen lässt (Hengstschläger/Leeb, AVG
(2. Ausgabe 2014) § 45 Rz 2). Demzufolge wäre ein Ersatzreisedokument nur dann erforderlich, wenn eine Abschiebung ohne Reisedokument mit überragender Wahrscheinlichkeit scheitern würde. Abgesehen von dieser Beweisfrage impliziert der Begriff „kann“ daher eine Verhältnismäßigkeitsprüfung, um unbillige Ergebnisse zu vermeiden. Eine Abschiebung ohne Reisedokument „kann“ daher auch dann nicht möglich (iSv unzulässig) sein, wenn sie zwar nicht mit überragender Wahrscheinlichkeit scheitern wird, aber bei einer einzelfallbezogenen Abwägung öffentlicher Interessen mit den persönlichen Interessen des Betroffenen aus der Sicht ex ante unverhältnismäßig erscheint.
26. In Hinblick auf den festgestellten Sachverhalt – insb die dargestellte Vollzugspraxis anderer EU Mitgliedstaaten - stand ein Scheitern der Abschiebung mittels Tazkira aus der Sicht ex ante keinesfalls mit überragender Wahrscheinlichkeit fest. Die BPD Salzburg hatte aber zunächst – offenbar auf Grundlage eines Erlasses des BMI - ein Heimreisezertifikat für erforderlich erachtet und eine Vorladung zur Botschaft koordiniert. Dem Bf kann damit nicht wirksam entgegen gehalten werden, es habe sich erst nach der Abschiebung herausgestellt, sein Tazkira älteren Datums hätte ein Heimreisezertifikat nicht wirksam ersetzen können. Überwiegende öffentliche Interessen, die auch bei solcher Sachlage einen Abschiebeversuch als verhältnismäßig erscheinen lassen würden, sind nicht ersichtlich. Im Ergebnis konnte die Abschiebung bei einzelfallbezogener Interessenabwägung ohne Passersatz iSd § 46 Abs 2 FPG nicht zulässigerweise durchgeführt werden. Damit erweist sich die beanstandete Abschiebung als unverhältnismäßig und rechtswidrig. Aus diesem Grund war spruchgemäß zu entscheiden.
27. Zulässigkeit der ordentlichen Revision:
28. Die ordentliche Revision ist zulässig, da im gegenständlichen Verfahren eine Rechtsfrage zu lösen war, der im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukommt. Zur dargestellten Frage der Auslegung des § 46 Abs 2 FPG liegt keine Rechtsprechung des VwGH vor.
R e c h t s m i t t e l b e l e h r u n g
Gegen dieses Erkenntnis besteht innerhalb von sechs Wochen ab dem Tag der Zustellung die Möglichkeit der Erhebung einer Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof und/oder einer ordentlichen Revision beim Verwaltungsgerichtshof. Eine Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof ist unmittelbar bei diesem einzubringen, eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof beim Landesverwaltungsgericht Oberösterreich. Die Abfassung und die Einbringung einer Beschwerde bzw. einer Revision müssen durch einen bevollmächtigten Rechtsanwalt bzw. eine bevollmächtigte Rechtsanwältin erfolgen. Für die Beschwerde bzw. Revision ist eine Eingabegebühr von je 240.- Euro zu entrichten.
Landesverwaltungsgericht Oberösterreich
Mag. Wolfgang Weigl